Eine ausführliche Leseprobe von „Ein gefährlicher Kult“ von LJ Ross, Erscheinungstermin 21. Juni 2016. Ich hatte das Vergnügen, diesen außerordentlich spannenden Kriminalroman zu übersetzen. Rezensenten können unter folgendem Link ein Vorab-Exemplar anfordern.
Prolog
20. Dezember
Auf Lindisfarne, auch Heilige Insel genannt, war der Winter unerbittlich. Scharfe Sturmböen von der Nordsee peitschten durch die gepflasterten Straßen und fegten zwischen den geduckten Steinhäusern hindurch, die so zusammengedrängt standen, als würden sie sich davon Wärme versprechen. Oberhalb des Dorfes zeichnete sich das Kloster ab, schwer beschädigt zwar, aber es stand auch nach Tausend Jahren noch.
Innerhalb der Klostermauern lag Lucy unter dem mit Sternen übersäten Himmel. Sie zitterte. Völlig entblößt, war sie hilflos den Temperaturen ausgesetzt, die weit unter null Grad gefallen waren. Hin und wieder bäumte sich ihr schlanker Körper auf, krampfte sich unter dem Schmerz zusammen, der sie quälte.
Sie glaubte, ihre Augen wären offen, konnte sich aber nicht sicher sein. Es war so dunkel.
Sie versuchte zu blinzeln. Es kostete sie eine gewaltige Anstrengung, die sie erschöpfte, aber allmählich klärte sich ihr Blick. Die vertrauten Umrisse des Klosters nahmen Gestalt an, seine Mauern rund um sie herum ragten wie schwarze Finger in den tintenblauen Himmel.
Die Steine boten wenig Schutz und noch weniger Komfort. Sie zitterte jetzt stark, ihr Körper reagierte auf den Schock und die Unterkühlung.
Warum bin ich hier? Ihr Verstand versuchte, den Schmerz und die Verwirrung zu durchdringen.
Sie hatte etwas getrunken, erinnerte sie sich plötzlich. Sie konnte noch den Rotwein auf ihrer Zunge schmecken, gemeinsam mit etwas eher Metallischem. Sie schluckte und sofort brannte ihre Kehle. Sie rang nach Atem, den Mund weit aufgerissen, während sie keuchend die kalte Luft einsog. Sie versuchte, ihre Hände zu heben, das Brennen zu lindern, aber ihre Arme waren so schwer.
Warum kann ich mich nicht bewegen? Panik erfasste sie. Sie tastete mit den Fingern nach etwas, irgendetwas. Ihre Fingerspitzen streiften Felsgestein. Sie versuchte, sich daran bis zu einem Rand entlangzutasten, aber schon diese kleine Bewegung verursachte ihr Übelkeit.
»Hilfe! Helft mir, bitte!« Ihre Stimme war nicht mehr als ein atemloses Krächzen. Tränen quollen aus ihren Augen.
Sie lauschte dem Geräusch der Wellen, die unten gegen die Küste schlugen. In der Stille des Abends klang es ohrenbetäubend. Sie strengte sich an, daneben auch andere Geräusche wahrzunehmen, hoffte und betete, dass jemand auf ihr klägliches Rufen reagieren möge.
Wie durch ein Wunder hörte sie tatsächlich das Knirschen von Schritten, die sich näherten.
»Hierher! Ich bin hier! Bitte …« Sie biss sich so fest auf die Lippe, dass sie blutete. »Bitte!«
Die Schritte behielten ihr gemächliches Tempo bei.
Schließlich fiel ein Schatten auf sie, das zugehörige Gesicht blieb in der pechschwarzen Dunkelheit unsichtbar. Aber sie hörte die Stimme.
»Es tut mir leid, Lucy. Das musst du mir glauben.«
Furcht und Fassungslosigkeit ließen ihren unruhigen Körper erstarren. Sie versuchte, näher an die Stimme heranzukommen, ihre Quelle ausfindig zu machen, konnte stattdessen aber nur frustriert den Kopf schütteln.
Es tut mir leid?
Es fiel ihr schwer, die Worte zu verarbeiten, ihren Ohren Glauben zu schenken.
»Du … Du kannst nicht …«, flüsterte sie. Sie bemühte sich, ihren Mund erneut zu öffnen, doch kein weiterer Laut drang heraus.
Von der Dunkelheit geschützt, sah er eine Weile auf sie hinab, während die Erinnerungen auf ihn einstürzten, vermischt mit einer großen Portion Bedauern. Er streckte seine zitternden Hände aus, umschloss ihren Hals und spürte dort den Puls wie wild schlagen. Er hielt inne und fragte sich, ob er einen Fehler begangen hatte, sie hierher zu bringen.
Diesmal nicht. Es würde keine weiteren Fehler geben.
Lucy fand keinen leichten Tod, aber in der endlos scheinenden Zeit, bis ihr Lebenslicht erlosch, dachte sie an ihr Zuhause.
Kapitel 1
21. Dezember
Stunden später rief Liz Morgan, die sich mit hochgezogenen Schultern gegen die beißende Kälte dieses frühen Dezembermorgens zu schützen versuchte, energisch ihren Hund durch das Gatter, das sich auf dem Weg zur Klosterruine hinauf befand. Sie war in Eile, denn der Sonnenaufgang stand unmittelbar bevor. Nur leicht außer Atem fegte sie zwischen den Steinen entlang. Das alte Gemäuer strahlte Ruhe und Frieden aus. Es schien, als sei es erschlafft, seitdem es in den Ruhestand versetzt worden war, und hinge nun leicht durch. Ähnlich wie sie selbst, überlegte sie und dachte nicht zum ersten Mal, dass ihre morgendlichen Gassirunden keinen Effekt mehr auf ihr Gewicht hatten. Der Speck hatte sich auf ihren Hüften anscheinend häuslich eingerichtet.
Als sie um eine Ecke bog, machte sie sich innerlich auf kalte Windböen gefasst und wurde nicht enttäuscht. Mit der Klosterruine im Rücken stand sie da und sah zu, wie die Morgenröte aufstieg und Bamburgh Castle inmitten blauer Nebelschleier erleuchtete. Das Schloss stand südlich von ihr auf dem Festland auf seinem felsigen Hügel und sein Gemäuer erglühte im frühen Licht in einem warmen Rostrot: eine passende Ehrerweisung an ein Schloss, das einmal das Zuhause längst vergessener Könige von England war. Ihre Augen tränten von dem scharfen Wind, und sie strich sich das an den Schläfen ergrauende Haar zurück. Abwesend fuhr sie mit den Fingern durch das Fell des schokoladenbraunen Labradors, der mit der Routine vertraut war und sich neben ihr niedergelassen hatte, während sie ihren stillen Tribut zollte.
Liz genoss den Anblick noch einige Minuten, bevor sie sich abwandte und um die Ruine herumschlenderte. So langsam wollte sie zurück nach Hause, wo ein Frühstück und eine warme Dusche auf sie warteten. Wie der Wind so durch die Ritzen pfiff, schienen die Mauern zu flüstern und sie bei ihrem Vorankommen zu beobachten, abwartend.
Sie mussten nicht lange warten.
Während ihr Atem kleine Wölkchen in der kalten Luft hinterließ, folgte Liz schnaufend dem bellenden Hund, der vor ihr lief, um den Rand der Landzunge herum.
Plötzlich blieb sie wie angewurzelt stehen. Ihre Knie wurden weich.
»Bruno!«
Automatisch rief sie den Hund von der weiteren Erkundung dessen, was vor ihm lag, zurück. Als Nächstes kam das Entsetzen, gemeinsam mit einem sauren Geschmack. Galle stieg ihr in die Kehle, und sie musste würgen. Liz stolperte rückwärts, ihr Körper leugnete unbewusst das, was ihre Augen nicht abstreiten konnten. Sie bemühte sich, ruhig zu atmen, um die ersten Wellen des Schocks zu überwinden. Schließlich zwang sie sich, noch einmal hinzusehen.
Die junge Frau, die einmal Lucy Mathieson gewesen war, lag nackt auf einem massiven Altar. Bröckelnde Steinmauern schützten sie vor den schlimmsten Einflüssen durch Wind und See und schufen eine beinahe feierliche Atmosphäre. Ihre Leiche war sorgfältig arrangiert worden, die Arme und Beine ausgestreckt, um ihr auch den letzten Rest an Würde zu nehmen, selbst im Tod. Hässliche Flecken verunstalteten die Haut an ihrem Hals und an den Armen. Ihr langes dunkles Haar lag in einem anmutigen Bogen aufgefächert um ihren Kopf. Es war feucht vom Regen, der über Nacht gefallen war, und an der Schläfe mit Blut verklebt. Über ihren Augen, die einst in einem lebhaften Kornblumenblau erstrahlten, lag nun ein weißlicher Film, und sie starrten blicklos in die neue Morgendämmerung.
In einem Cottage auf der anderen Seite des Dorfes kippte Ryan seine erste Tasse Kaffee hinunter und genoss den Kick des Koffeins, das nun durch seine Venen strömte. Er hatte eine weitere schlaflose Nacht damit verbracht, den Wellen zuzuhören, wie sie gegen die Küste brandeten, während er sich danach sehnte zu vergessen.
Er ging zu einem Fenster mit Ausblick auf den Damm und stützte seine schmale Gestalt auf die hölzerne Fensterbank. Mit Augen von derselben Farbe wie der wolkenverhangene Himmel sah er zu, wie sich das Meer sanft zurückzog, und er wusste, dass in einer Stunde oder so die Dammstraße von der Insel zum Festland befahrbar sein würde. Auf der anderen Seite des Kanals flackerten Lichter und boten ihm den schwachen Trost, dass er nicht der Einzige war, der zu dieser Zeit wach war. Nur noch fünf Minuten, sagte er sich, dann würde er zu dieser Joggingrunde aufbrechen, die er schon seit Wochen vor sich herschob.
»Ja, klar«, murmelte er, während er ein paar kleine Fischerboote auf ihrem Weg zurück in den Hafen beobachtete.
Als ein Turmfalke im Sturzflug auf die felsige Flachküste draußen vor seinem Fenster herabschoss, wandten sich seine Gedanken der Arbeit zu.
Du bist nicht bei der Arbeit, erinnerte ihn seine innere Stimme daran, dass seine Dienste bei der Northumbria Police Constabulary in naher Zukunft nicht benötigt wurden. Er verzog den Mund und fuhr sich mit den Fingern durch zerzaustes, kohlschwarzes Haar.
»Arschlöcher«, sagte er, war aber vor allem wütend auf sich selbst. Das Criminal Investigation Department, CID, hatte vorgeschlagen, dass er wenigstens drei Monate lang eine Auszeit nahm. Als ob die wüssten, was das Beste für ihn war.
Als ob sie ihm eine Wahl gelassen hätten.
Er lehnte seine Stirn an das kalte Fensterglas. Eine berufliche Auszeit hätte tatsächlich das Beste sein können, das er jemals gehabt hatte. Das einzige Problem war, dass er zu viel Zeit hatte. Durch die erzwungene Ruhe öffnete sich die Tür zu Erinnerungen, die besser vergessen gewesen wären.
Schwere Lider senkten sich über seine müden Augen, die bei einem hämmernden Geräusch wieder aufflogen. Für einen kurzen Augenblick dachte er, das Hämmern könnte durch den brutalen Kater verursacht worden sein, der in seinem Kopf wütete, doch dann erklang es erneut, eindringlicher diesmal. Er stieß sich vom Fenster ab und ging zur Tür.
Das Hämmern wurde lauter.
»Ja, ich komme!« Der weiche Akzent klang abgehackt, wenn er seine Stimme erhob. Ein Überbleibsel aus seiner Zeit in einem Internat, in dem das Englisch der Queen nicht nur erwartet, sondern gefordert wurde – genauso wie angemessene Kleidung und Manieren. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln, als er sein Spiegelbild im Flurspiegel auffing.
Das entspricht nicht eben der Hausordnung, Ryan, dachte er angesichts des zerknitterten Wollpullovers, der verwaschenen Jeans und der Stoppeln an seinem Kinn.
Maxwell Charles Finley-Ryan. Er bevorzugte einfach ›Ryan‹. Das Leben war schon kompliziert genug, auch ohne dass man ihm eine Reihe lächerlicher Namen beimischte.
Er fummelte an den Schlössern herum, und schließlich schwang die Tür auf. Er hatte Mühe, die Frau, die zitternd vor ihm stand, zuzuordnen. Mitte fünfzig, schlank, mit kurzem, zu einem Bob frisiertem aschblondem Haar, das nun aufgrund von Wind und Wetter zerzaust und feucht war. Ihre Hände umklammerten die Aufschläge ihres Anoraks und zitterten leicht. Ein schokobrauner Labrador winselte zu ihren Füßen.
Dawn? Jeanette? Er glaubte, sie im Dorf in einem der Geschäfte für kunsthandwerkliche Gegenstände arbeiten gesehen zu haben.
»Äh …« Er versuchte, sich an die grundlegenden gesellschaftlichen Umgangsformen zu erinnern, aber sie ließ ihm dazu keine Chance. Die Worte brachen nur so aus ihr heraus.
»Ich habe sie oben im Kloster gefunden. Sie müssen mit mir kommen.«
Ryan hob eine Augenbraue, aber dann setzte sein Instinkt ein. Ihre Pupillen waren klein wie Nadelstiche. Ihre Hände zitterten, und ihr Atem ging unregelmäßig.
»Okay, hören Sie … Liz.« Plötzlich erinnerte er sich daran, dass sie ihm eine nach Blumen duftende Kerze verkauft hatte, die er seiner Mutter geschickt hatte. »Kommen Sie herein, raus aus der Kälte.«
»Nein, nein, Sie müssen jetzt mitkommen.« Sie schauderte, als er versuchte, ihre Arme sanft zu umfassen.
»Ich werde Ihnen helfen, aber zuerst müssen Sie hereinkommen und sich hinsetzen.«
Er führte sie durch den kleinen Flur zum Wohnzimmer mit seinem gemütlichen Kamin und dem abgenutzten Ledersofa. Er wünschte sich, er hätte ein Feuer angemacht. Einen Augenblick lang bedauerte er außerdem, dass er die Überreste der eineinhalb Flaschen Rotwein vom letzten Abend nicht weggeräumt hatte, aber dem Gesichtsausdruck der Frau nach zu urteilen, nahm sie von ihrer Umgebung nichts wahr. Der Hund trottete hinter ihnen herein, nicht bereit, sein Frauchen zu verlassen.
»Nun«, er half ihr aufs Sofa, »was ist passiert? Sind Sie verletzt?«
»Nein, ich nicht!« Sie sah ihn mit qualvollem Blick an. »Es geht um Lucy – sie liegt dort oben im Kloster.«
Er sah, dass nun dicke Tränen ihre Wangen herabliefen, und ihm wurde flau.
»Was ist Lucy zugestoßen?«, fragte er tonlos.
»Ich weiß es nicht, aber sie ist tot.« Sie antwortete stockend, immer wieder von Schluchzern unterbrochen und mit hohler Stimme. »Ich war ihr Babysitter, als sie klein war. Ihre Mutter … oh Gott, Helen, wie soll ich es ihr sagen?« Sie schloss die Augen und als sie sie wieder öffnete, waren sie dunkel vor Trauer. »Sie war noch ein Baby. Sie war doch immer noch ein Baby.« Sie weinte, mit tiefen, herzzerreißenden Schluchzern, die ihren Körper durchschüttelten.
Ryans Brust war wie eingeschnürt. Es schien, dass, egal, was das Department anordnete, der Tod ihm folgte, wohin er auch ging.
»Sind Sie sich sicher?«
Liz brachte ein ruckartiges Nicken zustande. »Sie war tot.«
Er glaubte ihr.
»Warten Sie hier«, murmelte er und ging dann schnell zum Telefon im Flur. Er schlug die Nummer der örtlichen Küstenwache nach und wählte. Auf der Insel gab es keine Polizeiwache.
Nach einigen Malen Klingeln wurde am anderen Ende der Leitung abgenommen.
»Alex?«, fragte Ryan. Er wusste, dass dessen aktuelle Schicht bei der Küstenwache bereits seit einer Stunde lief.
»Ja?« Die Stimme mit ihrem singenden Tonfall des Nordens klang freundlich. »Haben Sie einen Notfall?«
»Ich brauche Sie, um einen Bereich oben am Kloster zu sichern. Kein Zutritt für die allgemeine Öffentlichkeit, erst einmal für niemanden außer für mich.«
»Wie bitte? Hören Sie, Sie können nicht …«
»Dort oben liegt ein totes Mädchen.«
Eine Zeit lang blieb es in der Leitung still, bevor Alex mit gedämpfter Stimme erneut sprach. »Sind Sie sich sicher?«
Ryan dachte an die Frau im Zimmer nebenan. Es bestand immer noch die Hoffnung, dass Liz sich getäuscht hatte.
»Rufen Sie den örtlichen Arzt an und sagen Sie ihm, er soll uns am Eingang des Klosters treffen. Wir werden es ganz sicher herausfinden.« Er konnte nicht zulassen, dass die gesamte Nachbarschaft versuchte, einen Blick auf den Tatort zu erhaschen. »Niemand passiert ohne mein Wissen das Eingangstor, weder rein noch raus. Bringen Sie ein Absperrband mit, um den Bereich zu sichern, und etwas, dass Sie sich über Ihre Schuhe und Kleidung ziehen können – Overalls, wenn Sie so etwas haben.«
Ryan hielt inne, öffnete die Haustür und schnupperte. »Bringen Sie auch etwas Plane oder ein paar Kunststoffbahnen mit, es sieht nach Regen aus. Ich werde sobald wie möglich auch dort oben sein. Kontaktieren Sie die Polizei auf dem Festland. Bitten Sie die Leitstelle, die Informationen an Gregson weiterzugeben und ein Team hierherzuschicken.«
Alex atmete vernehmlich aus, bevor er antwortete. »Mein Vater ist der Arzt dieser Insel, also werde ich ihn jetzt anrufen. Es wird allerdings noch eine Stunde dauern, bevor die Straße für die Polizei passierbar ist. Äh, Ryan, werden Sie …« Er räusperte sich verlegen. »Wissen Sie, ich habe so etwas bisher noch nie gemacht.«
Die Küstenwache auf Lindisfarne besaß eine Sondergenehmigung, um im Notfall als erste Eingreiftruppe zu handeln, aber bisher hatte das lediglich die Schlichtung von ein paar halbherzigen Kneipenschlägereien und einem Streit zwischen zwei Touristen darüber umfasst, wer wem in seinen SUV gefahren war. Mord war auf jeden Fall Neuland.
»Ich gehe alles Schritt für Schritt mit Ihnen durch. Fünf Minuten, Alex, maximal zehn.«
Er legte den Hörer auf und ging zurück zum Wohnzimmer. In der Tür blieb er für einen Augenblick stehen. Liz saß zusammengesunken da und schien älter und zerbrechlicher als zuvor. Ihr Gesicht war blass, ihr Blick tränenverschleiert, und ihre Hände zitterten immer noch.
»Liz«, sagte er sanft, woraufhin durch ihren Körper ein Ruck ging. »Gibt es jemanden, den ich anrufen kann? Kann ich Ihnen etwas bringen, ein Glas Wasser vielleicht?«
»Ich möchte, dass Sean bei mir ist.« Sie nannte ihm die Telefonnummer.
Er rief ihren Mann an und erklärte die Situation. Die sofortige Sorge, die aus der Stimme des Mannes herauszulesen war, sagte Ryan, dass er nicht lange würde warten müssen, bevor es erneut an der Tür klopfte. Es war gut, dass sie jemanden hatte.
Ryan verbrachte ein paar Minuten damit, eine kurze Aussage aufzunehmen, ein paar bruchstückhafte Informationen von Liz, bevor sie völlig zusammenbrach. Ihr Mann kam kurz darauf, und während Ryan sie beim Weggehen beobachtete, dachte er daran, dass es Liz’ erster Gedanke gewesen war, zu ihm zu rennen und nicht zu dem Mann, den sie liebte. Mit einem grimmigen Zug um den Mund schnappte er sich sein Handy und die Ausrüstung für Außeneinsätze, die er im Flurschrank aufbewahrte.
Es schien, als sei seine dreimonatige Auszeit vorüber.
Ryan sprang über das Besuchergatter am Eingang zum Kloster, seine langen Beine schritten weitgreifend aus, seine Schuhe steckten in Plastiküberziehern. Er bemerkte, dass noch keinerlei Vorkehrungen getroffen worden waren, die Öffentlichkeit vom Betreten des Ortes abzuhalten, was er sofort ändern musste. Ganz offensichtlich hatte die Küstenwache sich Zeit gelassen herzukommen. Er zog eine Rolle Absperrband hervor und war sich des Zynismus, der ihn dazu getrieben hatte, es einzupacken, als er nach Lindisfarne aufbrach, nur allzu bewusst. Er brachte das Band quer vor dem Eingang und den Zaun entlang an.
»Das muss erst einmal reichen«, brummte er.
Er ließ seinen Blick über die Umgebung schweifen. Alles war ruhig. Neunzig Prozent der Bauwerke auf der Insel gehörten zum Dorf, lediglich ein paar verstreute Ferienhäuser standen im Umland oder am Strand. Als er sich umdrehte, konnte er zu seiner Linken den Dorfrand und zu seiner Rechten den Hafen sehen, der sich in Richtung Festung erstreckte, zu deren Fuß sich die Station der Küstenwache befand. Keine Autos standen verräterisch nah am Kloster geparkt, keine Menschen waren in der Nähe, außer das Mädchen, das ihn erwartete.
Mit seinen Augen suchte er die nähere Umgebung sorgfältig ab, während er vorsichtig über das moosige Gras lief, das zwischen den Steinwällen wuchs. Währenddessen machte er einige Fotos – die Spurensicherung würde sicherlich alles finden, was es zu finden gab, aber man wusste nie, was einem bei der ersten Begehung eventuell entging. Es gab keine offensichtlichen Fußspuren, nur den ausgetretenen Pfad, der um die Außenmauern der Ruine herum führte, aber für den Fall der Fälle lief er neben ihm entlang. Ohne ersichtlichen Hinweis darauf, wo er die Leiche finden würde, folgte Ryan Liz’ Beschreibung und wappnete sich innerlich für den Moment. Er spürte, dass er nahe dran war, als er zwischen den hohen, gewölbten Wänden dem gewundenen Pfad folgte und plötzlich auf einen unverkennbar süßlichen Geruch stieß.
Es war nicht das erste Mal, dass er den Tod sah. Sein Herzschlag geriet bei dem Anblick aus dem Takt, aber sein Kreislauf blieb stabil. Eine junge Frau, die einmal schön gewesen war, war auf einer breiten Steinplatte drapiert. Ihre Beine waren gespreizt, und nur seine langjährige Erfahrung ermöglichte es ihm, weiter hinzusehen, ohne sich wie ein fürchterlicher Voyeur zu fühlen. Die Tiere hatten mit ihrer Arbeit begonnen, bemerkte er dumpf, aber es half ihm bei der Einschätzung, dass sie erst seit wenigen Stunden tot war. Ihre Leiche wirkte steif, aber nicht so starr wie ein Holzbrett, wie er es bei manch anderen gesehen hatte. Die Totenstarre könnte bereits eingesetzt haben, aber erst vor Kurzem, wenn man ihn fragte. Er schoss Fotos aus allen Winkeln und trat dann zurück, um eine Totale der gesamten Szenerie aufzunehmen.
Er senkte seine Kamera und runzelte die Stirn. Die Frau sah aus, als hätte jemand sie arrangiert. Sie lag nackt dort, ausgestreckt, die Handflächen beide nach oben gerichtet. Blut aus der klaffenden Wunde, das die Haare an ihrer Schläfe verklebte, war auch dazu benutzt worden, ihre Stirn und Handflächen zu kennzeichnen und um Linien entlang ihres Oberkörpers von der Brust bis zum Nabel zu zeichnen. Ihr Haar schien gekämmt worden zu sein und umrahmte ihr Gesicht. Er schnüffelte. Inmitten des reifen Dufts, der von dem beginnenden Verfall herrührte, war auf jeden Fall noch etwas anderes. Etwas Pflanzliches, das ihn unangemessenerweise an Curry denken ließ. Er schob den Gedanken beiseite und sah erneut hin.
Sie war nicht an dem Schlag auf ihren Kopf gestorben, vermutete er. Er ging in einem großen Bogen um sie herum, sorgsam darauf bedacht, wo er hintrat. Er konnte die blauen Flecken auf ihrem schlanken Hals und die Anzeichen geplatzter Blutgefäße unter ihrer Gesichtshaut sehen. Jemand mit großen Händen hatte sie erdrosselt und ihr so das Leben genommen.
Ihre Kleidung fehlte.
»Du warst vorsichtig, hm?«, murmelte Ryan.
Permanent nach Spuren Ausschau haltend, ging er zurück zum Eingang, um den Tatort zu bewachen, bis die Küstenwache eintraf.
»Die lassen sich ganz schön Zeit«, sagte er und sah auf seine Uhr. Fast Viertel nach sechs.
Es würde noch vierzig Minuten dauern, bis die Polizei zur Insel gelangen konnte; einen Hubschrauber von der Royal-Air-Force-Basis auf dem Festland anzufordern, würde dieselbe Zeit in Anspruch nehmen, wie es mit einem Boot zu versuchen.
Er musste einen Anruf tätigen, und er konnte ihn nicht länger aufschieben.
Er zog sein Handy hervor, gab die Telefonnummer ein und straffte unbewusst die Schultern.
»Gregson«, drang das vertraute Bellen des Detective Chief Superintendent, Commander des CID für Northumberland, durch die Leitung.
»Hier ist Ryan, Sir.«
Es folgte eine winzige Pause.
»Gut, von Ihnen zu hören. Ist das ein Höflichkeitsanruf? Wenn ja, haben Sie sich dazu eine unchristliche Zeit ausgesucht.«
Ryan ignorierte die Frage, da er wusste, dass Arthur Gregson jeden Morgen um Punkt sechs Uhr an seinem Schreibtisch war, komme, was da wolle. Trotz seines Ranges war Gregson immer noch der Erste, der kam, und der Letzte, der ging. Anscheinend hatte er die Neuigkeiten noch nicht erfahren, also kam Ryan gleich zum Punkt.
»Sir, wie Sie wissen, habe ich nun einige Zeit auf Lindisfarne verbracht. Vor etwa fünfzehn Minuten hat mir eine Inselbewohnerin von einem Vorfall berichtet. Die Frau war als Erste am Tatort. Ich habe in Abwesenheit eines leitenden Ermittlungsbeamten eine vorläufige Aussage der Zeugin aufgenommen und – da es keine dauerhafte Polizeipräsenz auf der Insel gibt – ordnungsgemäß die Küstenwache informiert. Ich habe den Mitarbeiter angewiesen, die örtlichen Behörden zu kontaktieren und die Angelegenheit Ihrem Büro weiterzuleiten.«
»Ein Vorfall?« Gregson redete nicht gern um den heißen Brei herum.
»Ja, Sir. Ich hielt es für ratsam, zum Tatort innerhalb der Klosterruine zu gehen und werde die Küstenwache anweisen, bei der ersten Gelegenheit alle weiteren Zugänge abzuriegeln. Eine erste Untersuchung weist auf den verdächtigen Tod einer ortsansässigen jungen Frau, etwa zwanzig Jahre alt, hin.« Er dachte an die Leiche, die wenige Meter hinter ihm lag, und sprach in noch nachdrücklicherem Tonfall weiter. »Es sieht nach einem Mord aus, mit rituellem Hintergrund.«
Ein kaum hörbarer Seufzer drang durch die Leitung. »Das hört sich so an, als hätten Sie Ihre Pflicht getan, Ryan. Ich werde Phillips oder MacKenzie schicken.«
»Sir, ich erbitte Ihre Erlaubnis, zum Dienst zurückzukehren und die Ermittlungen zu leiten.«
»Definitiv nicht.«
Ryan biss die Zähne zusammen. Nichts anderes hatte er erwartet.
»Ich habe das Gefühl, eine ausreichende Erholungsphase gehabt zu haben, seit ich das letzte Mal im aktiven Dienst war.« Er brachte es nicht über sich, darüber zu sprechen. Als er fortfuhr, stellte er sicher, ausgeglichen zu klingen. »Mit allem Respekt möchte ich daran erinnern, dass ich mit den örtlichen Gegebenheiten vertraut bin.« Er musste bei der Lüge nicht einmal blinzeln, dachte aber an all die Stunden, die er damit verbracht hatte, im Bett zu liegen und aus dem Fenster zu starren. »Ich kenne die Insel und ihre Bewohner. Ich bringe einzigartige Voraussetzungen dazu mit, die Befragungen und die Untersuchung durchzuführen.«
An seinem Schreibtisch im Hauptquartier des Polizeireviers lehnte sich Arthur Gregson in seinem breiten Ledersessel – einem Geschenk seiner Frau, um chronische Rückenschmerzen abzuwehren – zurück und klopfte mit seinen breiten Fingern, die einem Arbeiter gehören könnten, auf den Buchenschreibtisch in Standardausführung, den er penibel aufgeräumt hielt. Ryan war einer der Besten, die er hatte. Bis vor Kurzem war er tatkräftig, fleißig gewesen. und Gregson wusste, dass sich hinter dem hübschen Äußeren, das die Mädchen zu lieben schienen, ein messerscharfer Verstand verbarg. Ryan war die Karriereleiter schnell emporgeklettert. Eine exzellente Bildung hatte ihm dabei geholfen, einen Fuß in die Tür zu bekommen, aber das war kein Ersatz für Erfahrung, und Gregson musste zugeben, dass Ryan sich den Rest des Weges selbst freigeschaufelt hatte. Vor zwei Jahren hatte er persönlich Ryan seine Beförderung zum Detective Chief Inspector, DCI, ausgehändigt.
Vor sechs Monaten hatte Ryan sich in einer ausweglosen Situation befunden, und der persönliche Verlust daraus wog schwer. Die Frage war, ob er schon dazu bereit war, wieder aufs Pferd zu steigen. Gedanken an das psychologische Gutachten des Departments, das Protokoll und den Papierkram stürmten auf Gregson ein.
»Haben Sie schon wie empfohlen den psychologischen Berater des Departments aufgesucht? Wurden Sie in letzter Zeit von einem Allgemeinmediziner gründlich untersucht?«
Die Pause war gerade lang genug, um Gregson die Antwort zu liefern.
»Ich …«
»Meine Güte, Ryan!«
Ryan gab sich Mühe, seinen Stolz hinunterzuschlucken. Er dachte wieder an die junge Frau, die tot in seiner Nähe lag. »Ich kann mich um beides kümmern.«
In einem Maßanzug in derselben Farbe wie seine Uniform und mit einem Wust an stahlgrauen Haaren war Gregson ein imposanter Mann, der die Spielregeln der Politiker beherrschte und sich im Dialog mit den besten von ihnen messen konnte. Dennoch hatte er sich noch nicht so sehr an den Schreibtisch gewöhnt, dass er seine Zeit als Streifenpolizist vergessen hätte, die vielen Jahre im Außeneinsatz, bevor er das Ruder übernommen hatte. Er war für gewöhnlich vorsichtig und wägte sorgfältig ab, aber er hatte keine Angst, auf sein Bauchgefühl zu hören.
»Sehen Sie zu, dass Sie das erledigen.« Eine weitere Pause. »Ich bestätige hiermit, dass Ihre Auszeit zu Ende ist, sofern Sie zu Ihrem Hausarzt gehen und der eine schriftliche Bestätigung über Ihre körperliche Gesundheit ausstellt. Es würde mich beruhigen, wenn Sie zudem mit einem Psychologen sprechen würden.«
»Das Gutachten hatte das eher als Empfehlung denn als Voraussetzung aufgeführt, Sir.«
Gregson musste zugeben, dass das der Wahrheit entsprach, und versuchte, sich deswegen keine Sorgen zu machen.
»Sie sind wieder im Dienst, und zwar ab sofort.« Er zögerte, ging das Risiko aber trotzdem ein. »Sie sind der leitende Ermittlungsbeamte. Stellen Sie sich Ihr Team selbst zusammen.«
Ryan war zutiefst erleichtert, aber seine Stimme blieb fest. »Vielen Dank. Für den Anfang werde ich Phillips nehmen. Ich werde ein Team von Kriminaltechnikern benötigen und einige Beamte zur Bewachung und um Befragungen von Haus zu Haus durchzuführen.« Er sah sich um und schätzte die Größe des Areals ab sowie dessen Besonderheiten. »Was die Kriminaltechniker angeht, habe ich keine Präferenzen, aber Faulkner ist sehr gut.«
»Ich gebe Phillips selbst Bescheid und sage ihm, er soll die Forensiker aufscheuchen.«
»Ich fände es gut, wenn wir die Presse so lange wie möglich raushalten könnten. Ich hatte noch keine Gelegenheit, die nächsten Angehörigen zu informieren.«
»Geben Sie bis heute Nachmittag eine vorläufige Erklärung heraus, sonst sickern solche Dinge gern von selbst durch. Ich erwarte regelmäßige Berichte über den Fortschritt der Ermittlungen. Enttäuschen Sie mich nicht.«
»Verstanden.«
»Oh, und Ryan? Willkommen zurück.«
Ryan ließ das Handy zurück in seine Tasche gleiten, als er sich nähernde Schritte und gesenkte Stimmen hörte. Ein Teil von ihm verspannte sich, und Adrenalin schoss durch seine Adern, bevor er sich wieder entspannte. Die gängigen roten Jacken des Leiters der Küstenwache und seines Mitarbeiters bogen um die Ecke. Er nickte den beiden Männern zu, abwägend. Er erkannte Alex, den Vorgesetzten, der ein fester Bestandteil des Dorfes und seiner Umgebung war. Er war etwas über eins achtzig groß, etwa dreißig Jahre alt, blond und sportlich mit freundlichen Gesichtszügen, die ihn bei den Damen beliebt machten. Er sah eher wie ein Surfer aus als wie ein Mitglied der Küstenwache. Ryan hatte ihn mehrfach gesehen, wie er in den frühen Morgenstunden an seinem Cottage vorbeijoggte, und fast die Motivation aufgebracht, hinauszugehen und sich ihm anzuschließen.
Pete, der Mitarbeiter, hatte ein jungenhaftes Gesicht. Tatsächlich sah er so aus, als hätte er erst kürzlich den Stimmbruch hinter sich gebracht, aber er hatte sich einen kleinen Spitzbart stehen lassen, in dem Versuch, davon abzulenken. Er war ungefähr so groß wie sein Vorgesetzter, aber dünner, und seine Gliedmaßen waren länger. Er hatte verwuscheltes hellbraunes Haar, das einen Gegensatz zu seinem penibel getrimmten Bart darstellte. Ryan schloss daraus, dass er erst vor Kurzem aus dem Bett gekrochen war.
Beide Männer sahen nervös aus.
»Warum zum Teufel haben Sie so lange gebraucht?«
»Ryan.« Alex nickte ihm zu, nahm eine dunkle Sonnenbrille ab und steckte sie sich in sein dichtes, blondes Haar, während er die Hand ausstreckte. »Entschuldigen Sie bitte die Verspätung. Wir hatten ein paar Probleme damit, um diese frühe Zeit Plastikfolie aufzutreiben.«
Ryan schüttelte kurz die Hand des Mannes, ignorierte den Sarkasmus und nickte Pete schweigend zu.
Er trat zurück, nahm beide in Augenschein und wünschte sich ein professionelles Ermittlungsteam herbei, aber er wusste, er musste mit dem klarkommen, was er zur Verfügung hatte.
»Als Erstes möchte ich, dass Sie etwas über Ihre Schuhe und Kleidung ziehen. Haben Sie Overalls mitgebracht?«
»Äh …«
Ryan fluchte innerlich und kramte in seinem Rucksack herum. »Hier«, blaffte er, schob ihnen ein paar Plastikmülltüten zu und wartete, während sie den Kunststoff um ihre Stiefel und die unteren Enden ihrer Jeans banden. »Als Notbehelf soll es für den Augenblick reichen. Ich möchte, dass Sie den Tatort mit Plastikplanen schützen. Für mich sieht es nach Regen nach.«
Alex hob zweifelnd den Blick gen Himmel, der strahlend blau aussah und von dem blass die Sonne herunterschien, sagte aber nichts.
»Na los!«
Sie gingen den Besucherpfad hinauf, das Plastik flatterte in der Brise. Als sie das Klostergelände betraten, beobachtete Ryan ihre Reaktionen. Pete war der Erste, der zusammenklappte. Mit einer Hand fest auf seinen Bauch gepresst wandte er sich ab und kotzte augenblicklich sein Frühstück aus.
Ryan konnte es ihm nicht verdenken. Es ging einem an die Nieren, die ersten paar Male.
Alex klopfte Pete mit männlicher Hand auf den Rücken, aber der grünlichen Färbung unter seinem Allwetter-Teint nach zu urteilen, hielt er sich nur gerade so selbst aufrecht.
»Oh Gott …« Pete wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Oh Gott.«
»Gott hatte damit nichts zu tun«, murmelte Ryan, während er Alex beobachtete. Dieser trug einen Gesichtsausdruck zur Schau, den Ryan bereits Hunderte Male gesehen hatte und als eine Mischung aus Entsetzen und Faszination erkannte. Mit Augen so groß wie Untertassen starrte er im Augenblick auf die Leiche, seine Kehle schien sich zuzuschnüren. Ryan trat vor, verstellte ihm die Sicht auf die Leiche und bemerkte, wie sein Blick zurückschnellte.
»Wir brauchen ein Zelt rund um die Leiche«, begann er, darauf wartend, dass er die volle Aufmerksamkeit des Mannes hatte. Ryan warf einen prüfenden Blick zum Himmel, der schon bedeckter als zuvor aussah.
»Ihr Name war Lucy«, unterbrach Alex ihn schroff.
Ryan hielt inne, Verwirrung stand ihm ins Gesicht geschrieben, bevor er schließlich nickte. »Sie haben recht. Wir müssen das Areal um Lucy herum schützen – zehn Meter rund um ihre Leiche. Der Regen setzt bald ein.«
Gemeinsam steckten sie in einem großen Bogen das Gelände im Umkreis von Lucys Leiche ab, rollten die Kunststoff-Folie auseinander und verwendeten sie als provisorische Abschirmung. Ryan fiel auf, dass beide Männer, bis das provisorische Zelt errichtet war, schwer atmeten und war froh, dass sie sich soweit im Griff hatten, den Tatort nicht zu verunreinigen. Falls sie sich übergeben mussten, konnten sie das an anderer Stelle tun. Beide Männer hielten ihre Blicke auf die Aufgabe fixiert und sagten nichts, bis Petes tränenerstickte Stimme die Stille unterbrach.
»Können Sie sie nicht zudecken? Ich meine, warum lassen Sie sie dort nackt liegen?«
Ryan drehte sich um und betrachtete den Mann, fast noch ein Junge, und sah die Trauer in seinen Augen. Er ermahnte sich, standhaft zu bleiben.
»Es handelt sich hierbei um den Schauplatz eines Verbrechens, Pete. Haben Sie die Schulungen zu den Erstmaßnahmen absolviert?«
»Ja, aber …«
»Dann sollten Sie wissen, dass an einem Tatort nichts verändert werden sollte, bevor die Kriminaltechniker eintreffen.«
»Es ist nur …« Petes Augen wurden feucht. »Nichts. Machen Sie sich keine Gedanken.«
Pete war mit seiner Aufgabe fertig und ging aus dem Zelt hinaus zum anderen Ende der Kirche.
»Es ist schwer für ihn«, sagte Alex, der seinen Mitarbeiter dabei beobachtete, wie er darum kämpfte, die Fassung zu bewahren. »Er ging mit Lucy zur Schule. Wir alle kannten sie, aber die beiden sind zusammen aufgewachsen.«
»Aha«, war alles, was Ryan dazu sagte. Er speicherte die Information für später ab. Jetzt gab es wichtigere Dinge zu erledigen.
»Ich brauche Sie, um den Besuchereingang zu bewachen. Gibt es noch andere Zugangspunkte?«
Alex schüttelte den Kopf. »Das ist der einzige Weg zur Landzunge hoch. Die Mönche haben es zu ihrem Schutz so gebaut.« Er deutete durch die Lücken im Mauerwerk auf das Meer. »Der einzige andere Weg hierher wäre, diese Klippen raufzuklettern.«
Ryan wandte sich in die Richtung, in die Alex wies, und besah sich den jähen Abhang zum Strand hin, vor dem ein Holzzaun rund um das Gelände schützte. Er nickte, fürs Erste zufrieden.
»Schicken Sie Pete zur Bewachung zum Tor. Er muss erst einmal den Kopf frei bekommen. Ich will die Namen von jedem, der kommt oder geht, inklusive der Zeiten. Hier«, Ryan zog einer Flasche Wasser aus dem kleinen Rucksack, den er trug, »Geben Sie ihm das.«
Alex nickte nachdenklich. Er versuchte erneut, den Polizisten einzuschätzen, den er zunächst für reserviert gehalten hatte. Er wandte sich um, um Pete loszuschicken.
Ryan sah den jüngeren Mann, der nach wie vor durch den Mund atmete, eifrig nicken. Pete drehte sich um und rannte beinahe zum Tor hinunter.
»Pete ist ein guter Junge«, nahm Alex seinen Mitarbeiter in Schutz. »So etwas ist auf dieser Insel seit langer, langer Zeit nicht mehr passiert. Nicht seit ich lebe.«
»Die Leute bringen sich überall auf der Welt gegenseitig um.«
»Natürlich, aber Lindisfarne – es ist heilig.« Alex schüttelte mit trauriger Miene den Kopf. »Es ist so, als würde man jemanden in einer Kirche töten.«
Als Alex wegging, um Pete zu unterstützen, drehte sich Ryan wieder zu Lucy um und entschuldigte sich stumm. Die Polizeiarbeit war leichter zu bewältigen, wenn man einen Schritt zurücktrat, versuchte, die Angelegenheit unpersönlich zu behandeln. Wenn er anfing, an Lucy als einen Menschen aus Fleisch und Blut zu denken, mit braunem Haar und hübschen blauen Augen, eine junge Frau, die über die Weihnachtsferien nach Hause gekommen war, wenn er dann noch an all die Weihnachten denken würde, die sie nicht mehr erleben würde, dann war er sich nicht sicher, ob er damit würde umgehen können.
Er stand mit gerunzelter Stirn da, ein großer, unnahbarer Mann, so unbeweglich wie die Steine um ihn herum. Das hier war persönlich. Er mochte zwar erst seit ein paar Monaten auf der Insel sein, aber Menschen wie Liz vertrauten darauf, dass er seinen Job erledigte. Er hatte ihr gesagt, dass er sich um Lucy kümmern würde, und genau das würde er auch tun. Ob es ihnen bewusst war oder nicht, die Inselbewohner hatten ihm ein Heim und einen Rückzugsraum gegeben, als er beides gebraucht hatte. Er schuldete ihnen was.
Davon abgesehen, dachte er, als er seine kalten Hände rieb, brauchen sie Schutz vor einem der ihren. Er war sich verdammt sicher, dass die Ärzte zu dem Schluss kommen würden, dass Lucy Mathieson gestern Abend getötet worden war, nachdem die Flut bereits hereingekommen war und die Insel vom Festland abgeschnitten hatte. Das würde bedeuten, dass jemand, der sich zurzeit auf der Insel befand, Blut an seinen Händen hatte.
Er sah noch einmal auf die Uhr. Noch fünfzehn Minuten, bis die Dammstraße wieder passierbar sein würde.
»Alex!«, rief er den Mann, der von einem kalten Fuß auf den anderen hüpfte, zu sich zurück. »Schicken Sie ein paar Leute runter zum Strand, um die Straße zum Festland zu besetzen. Lassen Sie eine Straßensperre errichten – niemand passiert die Dammstraße, in welche Richtung auch immer, wenn er nicht auf der Insel lebt oder geschäftlich hier zu tun hat.«
»Ryan, das können wir nicht machen. Heute werden ganze Horden von Menschen auf die Insel kommen, Sie wissen das.« Alex sah gequält drein. »Außerdem haben wir nicht genügend Leute. Ich habe Pete am Besuchertor und … äh … ich konnte Rob noch nicht erreichen. Er hatte die Nachtschicht. Mark ist auf dem Weg hierher.« Damit hatte er alle freiwilligen Helfer der Küstenwache durch.
»Was ist denn an heute so besonders?« Ryan zuckte die Schultern. »Weil es fast Weihnachten ist?«
Alex sah ihn an, als wären ihm zwei Köpfe gewachsen. »Nun, sicher, an Weihnachten ist auf Lindisfarne immer viel los, aber heute ist der Einundzwanzigste.«
Ryan ging innerlich den Kalender durch, aber nichts machte klick.
»Solstitium«, half ihm Alex mit einer Miene aus, die zu sagen schien: »dummer Auswärtiger«.
Ryan konnte Solstitium nicht von einem Hustenmittel unterscheiden.
»Okay«, sagte er mit leerem Gesichtsausdruck.
Alex verlagerte das Gewicht auf seinen anderen Fuß und nahm einen autoritären Tonfall an. »Die Wintersonnenwende. An diesem Tag kommen jedes Jahr alle Neo-Heiden zusammen, um die kürzeren Nächte und längeren Tage zu feiern. Im Grunde treffen sich einfach alle am Strand, entzünden ein paar Feuer, singen einige Lieder und grillen.«
Ryan betrachtete sich selbst nicht als religiös. Er hatte zu viel vom Leben gesehen und davon, was ein Mensch einem anderen anzutun fähig war, um an eine Gottheit zu glauben, die so etwas zulassen würde. Dennoch, wenn die Leute um ein Lagerfeuer herumtanzen und sich betrinken wollten, konnte er daran nichts Schlimmes finden. Außer einer von ihnen hat sich dazu entschlossen, die symbolische Opfergabe zu übertreiben, fügte er in Gedanken hinzu, während er an die junge Frau dachte, die hinter ihm auf einer kalten Steinplatte lag.
»Wie halten es die Einheimischen damit?«, fragte er.
»Die ältere Bevölkerung besteht größtenteils aus Christen, aber da den meisten von ihnen die Pensionen und Souvenirläden gehören, lächeln sie nur freundlich und machen ein gutes Geschäft. Den Rest von uns kümmert es einen Scheißdreck«, antwortete Alex mit einem Schulterzucken.
Ryan dachte kurz darüber nach.
»Was ist mit dem Pfarrer?« Er hielt seinen Blick auf den Turm der einzigen Kirche der Insel gerichtet, der sich gerade so über die Dächer der Wohnhäuser des Dorfes erhob. Der Friedhof der Kirche grenzte unmittelbar an das Klostergelände.
»Mike?« Alex lachte. »Er liebt es. Jedes Jahr bietet es ihm die Gelegenheit, das Wort Gottes zu verkünden und zu versuchen, ein paar Ungläubige zu bekehren.«
Ryan hielt kurz inne und speicherte die Informationen in seinem Gedächtnis. Interessant, aber all das änderte nichts an der Tatsache, dass das Letzte, was sie brauchten, eine Horde Touristen war, die überall herumtrampelte.
»Wenn es einen ganzen Schwarm an Besuchern geben wird, ist das genau der Grund, aus dem sie die Insel nicht betreten dürfen. Denken Sie nach!«, machte er dem Protest seines Gegenübers ein Ende. »Es muss jemand gewesen sein, der bereits hier ist, Alex.«
Alex’ Miene verfinsterte sich. »Das ändert natürlich alles. Trotzdem, die Inselbewohner werden es nicht mögen.«
»Sie werden die Tatsache, dass eine der ihren brutal ermordet wurde, noch viel weniger mögen.« Ryan war zu einem Kompromiss bereit. »Holen Sie Rob und Mark, schleifen Sie sie mit eigenen Händen aus dem Bett, wenn Sie das müssen, aber schaffen Sie sie um Gottes willen runter zum Strand. Ich will die Namen und die Autokennzeichen aller, die auf die Insel kommen oder sie verlassen.«
Er machte eine Pause, in Gedanken bei Liz.
»Mark – handelt es sich dabei um Mark Bowers?«
Alex nickte. »Er arbeitet ein- oder zweimal pro Woche ehrenamtlich bei der Küstenwache. Ansonsten leitet er das Heimatmuseum und den Souvenirladen und bietet historische Führungen an.«
»Sie müssen ihm sagen, dass sich mit dem Museum heute keine Geschäfte werden machen lassen. Es werden keine Besucher hierherkommen. Sagen Sie ihm auch, dass er Liz Morgan nicht belästigen soll. Sie wird nicht zur Arbeit im Souvenirladen erscheinen.«
Mit finsterem Blick nickte Alex und ging weg.
Damit zufrieden, dass sich das Räderwerk in Gang gesetzt hatte, entschied sich Ryan, Gregsons Mailbox anzurufen und eine Nachricht zu hinterlassen. Er wusste, dass das feige war, aber er konnte prima ohne Diskussion über die Vorzüge und Nachteile der Schließung einer ganzen Insel für die Öffentlichkeit auskommen. Es stand nicht zur Debatte.